02/07/2024 0 Kommentare
Christentum, Reformation und die Bürgerstadt - Beteiligung und Zukunft in der urbanen Welt
Christentum, Reformation und die Bürgerstadt - Beteiligung und Zukunft in der urbanen Welt
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Christentum, Reformation und die Bürgerstadt - Beteiligung und Zukunft in der urbanen Welt
Von Alexander Höner
Einleitung
Kirche ist langsam. Und nicht immer ist das schlecht. Wenn alle nur noch rennen, ist eine besonnene Beobachterin wichtig und sogar produktiv, weil sie andere Zusammenhänge erkennt. Trotzdem möchte selten jemand als langsam bezeichnet werden. Das mag erklären, warum Kirche in der schnellen Medienwelt manchmal noch schneller sein will. Bereits im September erschienen im evangelischen Magazin zeitzeichen die ersten Rückblicke auf das Reformationsjubiläum und die Reformationsdekade - noch bevor der eigentliche Reformationstag begangen wurde. Und das Theologische Labor Berlin? Traute sich langsam zu sein. Zwei Wochen nach dem 31. Oktober fragte es: „Wer brachte die Reformation damals voran - war es wirklich nur das Bürgertum in den Städten? Welche Personengruppen - wenn diese heute noch so einheitlich wie das Bürgertum damals zu identifizieren sind - gestalten das Zusammenleben und erneuern die Kirche heute - besonders in Berlin?“
Foto: johncoffee fotolia
Vortrag I - Biblische Perspektive
Den Aufschlag der zweitägigen Konferenz servierte Philipp Enger, Professor für Biblische Theologie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Sein Vortrag: Tempel, Götter, Städte - Religionsgeschichtliche Sichtungen. Darin stellte er Städte und ihre Bewohner im biblischen, d.h. im mesopotamischen, phönizischen, ägyptischen, griechischen und römischen Kontext vor. Damit setzte er ein breites Fundament für die Veranstaltung. Chronologisch gab er einen Überblick von der vorstaatlichen Zeit Israels bis zur Zeit der Paulus Reisen. Der Befund aus dem Alten Testament ist eindeutig: Bis auf Jerusalem/Zion wird städtisches Leben eher kritisch dargestellt und mit der menschlichen Hybris sowie der Gottesferne in Verbindung gebracht. Stadtkritik wird vor allem durch die Propheten geäußert. Auch der Blick auf das Neue Testament ist zunächst ernüchternd: Jesus und seine Anhänger*innen bewegten sich überwiegend im ländlichen Raum, in seinen Gleichnissen benutzt er fast ausschließlich Bilder aus diesen Lebenszusammenhängen. Sein Besuch der Stadt Jerusalem führt zu seiner Verurteilung und zu seinem Tod. Erst in nachösterlicher Zeit gelangt das urbane Umfeld in ein besseres Licht, und zwar wenn es um die Verbreitung der Botschaft Jesu geht. Da werden die städtischen Zentren für Gemeindegründungen und die Netzwerkarbeit wichtig. Bemerkenswert ist, dass sich eine ländlich geprägte Bewegung derart schnell und flächendeckend über die Städte verbreitet hat. Die Botschaft muss auch die Bewohner*innen der Städte eindrücklich bewegt haben.
Vortrag II - Praktisch Theologische Perspektive
Mit der Darstellung des Idealbildes einer europäischen Stadt führte der Vortrag von Ruth Conrad, Professorin für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, einige Jahrhunderte weiter ins Mittelalter. Sie zeigte auf, wie die Trias von Rathaus, Markt, Kirche nicht nur das damalige Stadtverständnis prägte, sondern auch das Machtgefüge und die Sinnzusammenhänge symbolisierte - und zwar bis in die Gegenwart. Eine tiefgreifende Zäsur gab es dabei allerdings durch die Industrialisierung, während der der Stadtgedanke stark verzweckt und funktionalisiert wurde. „Wie wird der moderne, urbane Mensch von der christlichen Botschaft angesprochen und wie lebt er diese Botschaft? Anders gefragt: Wer trägt die Kirche?“ Über diese Frage arbeitete der Heidelberger und Marburger Professor für Praktische Theologie Friedrich Niebergall Anfang des 20. Jahrhunderts. Und er kommt zu dem Schluss, dass die von ihm so genannten „kleinen Leute“ die Kirche tragen. Diese wird vor allem in der Gemeinschaftsform der Ortsgemeinde, der Parochie durch Liebes- und Fürsorgetätigkeit gelebt und erhält dadurch auch eine erzieherische Funktion. Das Idealbild einer kleinen überschaubaren Gemeindestruktur rezipiert Niebergall von Emil Sulze, dem Gemeindereformator und Kulturprotestant in Chemnitz und Dresden im 19. Jahrhundert. Abschließend analysierte Conrad noch eine empirische Erhebung in den evangelischen Kirchen von Stuttgart. Ihre zusammenfassende Beurteilung dazu: Aus der Sicht der Befragten habe die Kirche auf alle Veränderungsprozesse recht gut reagiert. Vor allem im bürgerlichen Milieu sei die Identifizierung immer noch stark. Kritisch sieht sie die geringe Verbundenheit von Sozialschwachen, da doch gerade diese im neutestamentlichen Zusammenhang die primären Adressaten waren.
Workshop I - Berliner Perspektiven
„Beteiligung und Zukunft in der urbanen Welt“ - so lautete die Unterüberschrift unseres Theologischen Labors. Deshalb hatten wir Gesprächspartner*innen aus drei Bereichen eingeladen, die aussagefähig zu Partizipationsbewegungen an der gesellschaftlichen Basis sind. Ines Schilling, Leiterin der Sozialraumorientierten Planungskoordination im Bezirksamt Treptow-Köpenick, zeigte in beeindruckender Weise, wie heutige behördliche Strukturen zur Beteiligung motivieren und einladen und wie Veränderungsprozesse in den Quartieren mit den dortigen Bewohner*innen abgestimmt sowie zusammen gestaltet werden. Vom Ziel ähnlich, aber vom institutionellen Ansatz unterschiedlich ist das Prinzip des Community Organizing, das uns von zwei sehr kundigen Vertretern vorgestellt wurde: Leo Penta, Professor und Leiter des Deutschen Instituts für Community Organizing (DICO) an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin und Nirilalaina Andriamiharisoa, vom selben Institut und von der Bürgerplattform Wedding/Moabit „Wir sind da!“ Beim Konzept des Community Organizing bauen professionelle Organizer systematisch persönliche Beziehungen zu Schlüsselpersonen in den Stadtteilen auf und verdeutlichen dadurch, wie einfach es ist, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen und sein unmittelbares Umfeld mitzugestalten. Das ist niedrigschwellig und spricht auch Politikverdrossene an. Mit dem Refo-Konvent und seinen engagierten Vertreter*innen Rike Flämig, Tobias Horrer und Steve Rauhut kamen wir ins Gespräch darüber, wie man ein leerstehendes Kirchgebäude wieder zum Leben erwecken kann. Dabei wurde auch hier die wichtige Vernetzung im Stadtteil angesprochen und das große Potential, das wir mit den kirchlichen Räumen haben - so wurde zum Beispiel einer Theatergruppe in der Kirche Raum gewährt und diese bedankten sich wiederum damit, dass sie Gottesdienste mitgestalteten. Nah bei den Menschen vor Ort zu sein, Gottvertrauen und Freiheit, den Heiligen Geist wehen zu lassen, wo er will, sind drei wesentliche Elemente auf dem Weg des Refo-Konventes gewesen. Insgesamt ist bei diesem Workshop deutlich geworden, dass die urbane Welt nicht nur Individualität und Vereinsamung hervorbringt, sondern ein vitaler, interaktiver Gemeinschaftsort ist und bleiben wird (vgl.: Hanno Rauterberg, Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne, Berlin 42016)
Workshop II - Ökumenisch interreligiöse Perspektive
„Die Stadt bietet viel und nimmt viel. Sie ist Zumutung und Geschenk zugleich.“ Dieses stets vorhandene ambivalente urbane Spannungsverhältnis, das in der Anfangsrunde geäußert wurde, war der rote Faden, an dem sich der zweite Workshop orientierte. Aus der Sicht einer Muslimin, Iman A. Reimann vom Deutschsprachigen Muslimkreis, aus der Perspektive eines Baptisten, Pfarrer Peter Jörgensen, Baptistenkirche Wedding und Beauftragter der Vereinigung Evangelischer Freikirchen am Sitz der Bundesregierung, sowie aus der Position eines landeskirchlichen Christen, Superintendent Dr. Bertold Höcker vom Evangelischen Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte, wurde darüber diskutiert, inwieweit religiöse Gemeinschaften in der Stadt Anlaufpunkte für die Menschen sind, die Orientierung und Beteiligungsmöglichkeiten suchen. Dabei wurde klar, dass es kein Entweder-Oder gibt: Das Ortsgemeindemodell mit dem Schwerpunkt auf langfristige persönliche Beziehungsarbeit ist kein Gegenmodell zum Modell von Kirche auf Zeit mit Projektangeboten, sondern beide Modelle ergänzen sich. Eine Teilnehmerin fasste es mit dem ekklesiologischen Bild des Sammelns und Sendens zusammen. Einig waren sich die Diskussionsteilnehmer*innen darin, dass beide Modelle nicht in sich geschlossen sein dürfen, sondern als Angebote in den jeweiligen Kiez ausstrahlen sollen, um nicht nur einen inner-circle anzusprechen. Religiöse Gemeinschaften sind in diesem Sinne stationäre oder ambulante Aufladestationen, um die Lebenskraftakkus der Stadtbewohner*innen aufzuladen. Das geschieht in Aufnahme und Abgrenzung städtischen Lebens. Wie das genau geschieht, muss differenziert beobachtet und beschrieben werden, ohne die Phänomene gleich zu bewerten.
Vortrag III - Kirchengeschichtliche Perspektive
Bezugspunkt für den Vortrag des Leipziger Historikers Klaus Fitschen ist der Kirchengeschichtsklassiker von Bernd Moeller „Reichsstadt und Reformation“ - zum ersten Mal 1962 erschienen und zuletzt 2011 neu herausgegeben. Darin wird die These vertreten, dass die Reformation maßgeblich durch die Bürgerinnen und Bürger der Reichsstädte vorangebracht worden ist. Moeller beschreibt dabei die Städte als so genannte „Sakralgemeinschaften“ und stützt sich dabei auf die Einschätzungen der Rechtshistoriker Alfred Karl Hermann Schultze und Karl Frölich. Der Berkeley Geschichtswissenschaftler Thomas A. Brady hingegen sieht in dieser Darstellung eine Fiktion und bewertet die damaligen Städte als uneinheitlicher als der Begriff der Sakralgemeinschaft es ausdrückt. Fitschen sieht das ähnlich kritisch und führte Untersuchungen an, die belegen, dass die Reformationsbewegung sich in den unterschiedlichen Städten in ihrer Wucht und in ihrem Grad der Partizipation deutlich unterschieden. Zudem führte er an, dass die ländliche Situation damals schlechter dokumentiert sei als die Situation in den Städten. Ebenfalls entscheidend für die Partizipation beurteilte er auch die Frage danach, was alles eigentlich zur Reformation gezählt wird: die politische, die kirchenorganisatorische, die individuelle, die auf die Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin personenbezogene Dimension. War somit zum Beispiel auch schon der veränderte Habitus vieler Landpfarrer, indem sie nicht mehr fasteten und weltliche Kleidung trugen, ein wichtiger Beitrag zur Ausbreitung der reformatorischen Bewegung? Sicherlich auch, aber trotz dieser Relativierung, mit der jeder historischen Darstellung begegnet werden muss, weil immer auch die Gefahr der ideologischen und projizierenden Überzeichnung besteht, behält die Erkenntnis Moellers ihre Gültigkeit. Interessant war der Ausblick Fitschens auf die Frage, wer denn heute und in Zukunft Kirche und ihre Veränderungen tragen wird: Wir haben aktuell im urbanen Leben noch viel weniger Eindeutigkeiten und Mehrheiten als damals in den vermeintlichen Sakralgemeinschaften. Die einzige Eindeutigkeit sei, dass bis zu 90 Prozent der städtischen Bevölkerung nicht kirchlich gebunden sind und somit ein ekklesiozentrisches Weltbild nicht mehr hilfreich ist. Stattdessen wäre dreierlei wichtig: eine biblische Fundierung, ein Ernstnehmen der unterschiedlichen Lebensdeutungen der Stadtmenschen und eine Wahrnehmung der Kontaktflächen zu denjenigen, die urbanes Leben tragen und gestalten.
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